Insolvenz – Hintergründe und Informationen
Die Jugendland Insolvenz
Gründe und Hintergründe – Wirtschaftliches – Politisches – Soziales
Übersicht
DIE HINTERGRÜNDE
Jugendland – ein Partner der Kinder- und Jugendhilfe seit 1987
Im Mai 1987 wurde der damalige Verein Jugendland von der Tiroler Landesregierung mit der Führung des bis dahin ‚Landessäuglings- und Kinderheim Arzl‘ betraut. Jugendland hatte ein für damalige Verhältnisse innovatives Konzept, das großen Anklang fand: sozialpädagogische Wohngruppen für Kinder und Jugendliche, erstmals koedukativ geführt, Kreativangebote für die Freizeitgestaltung wie Tanz, Theater und Werkstatt, und Beschäftigungsmöglichkeiten für am Arbeitsmarkt benachteiligte Jugendliche aus den Wohngruppen. Zusätzlich übernahm Jugendland den bis dahin im Heim in Arzl vom Land Tirol geführten Kindergarten, der auch den Arzler Familien für ihre Kinder offenstand.
Trägerverein Jugendland – Jungen Menschen Chancen geben
Der gemeinnützige Verein Jugendland wurde 1985 von einer Gruppe engagierter junger Leute rund um Reinhard Halder gegründet und führte zunächst Werkstattprojekte für arbeitslose Jugendliche in Kooperation mit dem damaligen Arbeitsamt des Sozialministeriums. Die Jugendland Mission wurde von Beginn an bis heute gelebt: Jungen Menschen Chancen geben.
Philipp Neri Catering
1989 gründete Reinhard Halder mit einem Jugendland Vorstandsmitglied die Philipp Neri GmbH, ein Catering-Unternehmen, das der Ermöglichung von Berufstraining für Jugendliche und der Erwirtschaftung von Mitteln für die Kinderbetreuung im Jugendland diente. Verrechnet wurden immer nur jene Leistungen, die das Catering für Jugendland erbracht hat. Das Catering ist bekannt und beliebt bei unterschiedlichen Auftraggebern. Die beiden Gesellschafter sind ehrenamtlich tätig und haben auf Dauer auf Ausschüttungen aus der Gesellschaft verzichtet. Zuletzt hat der Cateringbetrieb Jugendland mit größeren Zuwendungen geholfen, um die schwierige finanzielle Situation besser bewältigen zu können. Es ist der gemeinnützige Wirtschaftsbetrieb im Jugendland.
Erweiterung als Hilfe in Notlagen
Jugendland führt seit bald vier Jahrzehnten erfolgreich sozialpädagogische Wohngruppen mit Bewilligung und unter Aufsicht der Kinder- und Jugendhilfe des Landes Tirol. Zusätzliche Standorte zu Arzl kamen in den Jahren 2008, 2010 und 2012 mit externen Wohngruppen in der Reichenau und in Pradl dazu. Jeweils gab es tirolweite Not an Plätzen und Jugendland half kurzfristig und engagiert aus. Noch mehr Kinder und Jugendliche erhielten die Chance auf ein Zuhause ergänzend zu ihrer Familie.
Jugendland GmbH als rechtlich passende Trägerlösung
Im Jahr 2014 wurde die gemeinnützige Jugendland GmbH gegründet, die die Führung der Jugendland Einrichtungen übernahm. Alleingesellschafter ist der Verein Jugendland. Jugendland wurde damit einer allgemeinen Entwicklung im Non-Profit-Bereich gerecht.
Tagesbetreuung, KünstlerKinder und Funtasy
Der Kindergarten in Arzl übersiedelte 2006 in die Reichenau und wurde um eine Kinderkrippe erweitert. Aus dem Kreativangebot seit Gründung wurde das Kinder- und Jugend-Kreativprogramm KünstlerKinder.
Beide Angebote sind wertvolle ergänzende Betreuungsangebote für die Wohngruppen und für die WG-Kinder die Chance, ohne Stigmatisierung an Freizeitaktivitäten teil zu nehmen, weil sie mit Kindern aus Familien gemeinsam teilnehmen und Freizeit erleben. Das Bildungszentrum Funtasy ist ein beliebter Ort für Kommunikation, für Lernförderung und Weiterbildung für die Kinder und Jugendlichen sowie MitarbeiterInnen der Jugendhilfe im Jugendland.
Jugendland war immer innovativ, kreativ und entwicklungsfreudig
Das schätzten auch die über eintausend Kinder und jungen Menschen, die im Jugendland aufgewachsen sind und für die Jugendland eng verbunden mit ihrer Kindheit und Jugend ist.
Es waren vielfältige Chancen, die sie im Jugendland fanden und finden.
DIE INSOLVENZ
Groß – flexibel – lösungsorientiert mit dem Kind im Mittelpunkt
Mit Flexibilität und einer lösungsorientierten Haltung verbunden mit einem Fokus auf die Situation und Bedürfnisse von Kindern konnten die Jugendland MitarbeiterInnen oft helfen, wo es anderen nicht möglich war: mit Einzelwohnbetreuung eines Volksschulkindes, das im Gruppenverband massiv überfordert war, mit häuslichem Unterricht, wo Schulbesuch nicht möglich war, mit der Palliativbetreuung einer Jugendlichen, der Aufnahme von mehreren Geschwisterkindern am Tag der Abnahme, Notaufnahmen, wo alle Einrichtungen voll waren, mit Durchstehen bei Extremverhalten von Kindern, Dranbleiben bei verweigernden und abgängigen Jugendlichen, mit kreativen Auszeitaktionen, mit einem unerschütterlichen Glauben an die Potentiale, die Kinder in sich haben und an die Entwicklungsschritte, die sie bewältigen können.
Diese Sonderleistungen waren nur selten kostendeckend finanziert, es sei nicht möglich gewesen – Jugendland erbrachte die Leistungen trotzdem, den Kindern zuliebe und in der Verantwortung als großer Träger sowie in der Erfüllung der Jugendland Mission: Jungen Menschen Chancen geben.
Diese Kosten hätten aber abgedeckt werden müssen. Zumindest durch Indexierung der Tagsätze.
Das Problem mit der Norm
Die Schwierigkeiten begannen mit dem Normtagsatzmodell des Landes Tirol. Um Vergleichbarkeit der Kosten zu schaffen wurde eine Norm-WG erstellt, für ganz Tirol und alle Kinder und Träger. Es ist ein Modell für eine einzelne WG, nicht für einen Träger wie Jugendland. Fast alles ist im Detail vorgegeben, für besondere Angebote, die Kinder brauchen, ist kein Platz. Bis Ende 2024 müssen alle Wohngruppen in Tirol im Normtagsatzmodell sein.
Kinder haben individuelle Probleme und Bedürfnisse. Kinder brauchen unterschiedliche Förderungen. Das haben sie im Jugendland über vier Jahrzehnte gehabt. Das war von Beginn an im Konzept, das war der Grund, warum Jugendland 1987 den Auftrag erhielt, das war von vielen SozialarbeiterInnen und Eltern geschätzt und für die PädagogInnen in den Wohngruppen eine wertvolle Ergänzung ihrer Arbeit.
Aufnahmen in Wohngruppen erfolgen wenn sie notwendig sind, nicht nur am Beginn des Kindergartenjahres. Vorschulkinder sind durch die Trennung von ihren Eltern belastet genug, im Jugendland konnten sie am nächsten Tag den eigenen Kindergarten besuchen, bei anderen Kindergärten wären sie auf der Warteliste. Diese rasche Integration der Kinder kostet Geld.
Schulsuspendierte Kinder erhalten ‚häusliche Förderung‘ im eigenen Bildungszentrum, außerhalb der WG, die andere Aufgaben zu erfüllen hat. Diese Alternative zum Schulbesuch kostet Geld.
Traumatisierte Kinder haben Probleme sich sozial zu integrieren, in üblichen Freizeitvereinen geht das oft nicht. Jugendland bietet ihnen Freizeitmöglichkeiten bei den KünstlerKindern, die sozialpädagogisch betreut sind, was für diese Kinder wichtig ist. Diese besonderen Freizeitangebote kosten Geld.
Was ist da ‚zweckwidrig‘?
Mitfinanzierungen für diese Angebote wurden als ‚zweckwidrige Verwendung‘ eingestuft und sind im Normtagsatz nicht vorgesehen. Eine Rückverrechnung der Beiträge für die Fördermöglichkeiten im Jugendland für einen Zeitraum von sieben Jahren erbrachte nach einer oberflächlichen Berechnung des Landes 600.000 Euro bei einem Gesamtbudget in sieben Jahren von rund 23 Millionen Euro, also 2,6 (!) Prozent des Gesamtbudgets
Die 600.000 Euro wollte das Land von Jugendland wegen ‚zweckwidriger Verwendung‘ zurück, das konnten wir nicht bezahlen. Der Jugendland Tagsatz war ohnehin über Jahrzehnte unter dem Durchschnitt der Tagsätze der Tiroler Einrichtungen. Das ist für einen großen Träger mit flexibler Arbeitsweise möglich. Eine Rückzahlung an das Land ging sich da nicht aus, schon gar nicht, weil es keine ‚zweckwidrige Verwendung‘ war, sondern ausschließlich den Kindern und der pädagogischen Arbeit zugute kam.
Die einseitige Gegenverrechnung
Da das Land das Geld von Jugendland nicht holen konnte, wurde einfach weniger bezahlt. Einseitig wurde die Indexierung des Tagsatzes im Jahr 2023 ausgesetzt. Es war jenes Jahr, in dem durch Änderungen im Kollektivvertrag und die allgemeine Indexierung der Gehälter von über 9 Prozent die höchsten Personalkostensteigerungen seit Jahrzehnten bewältigt werden mussten, insgesamt fast ein Fünftel des Personalbudgets. Jugendland konnte die Vorgaben des Kollektivvertrags nicht aussetzen.
Durch diese Vorgangsweise des Landes fehlten im Budget 450.000 Euro. Zusätzlich wurden lange Zeit zugesagte Sonderfinanzierungen für Abfertigungen ALT einseitig zurückgezogen und ebenfalls mit den 600.000 Euro gegenverrechnet.
Die Verantwortung des Geschäftsführers
Ein Konkurs kommt zustande, wenn die Ausgaben höher sind als die Einnahmen und Zahlungsunfähigkeit entsteht. Die Verantwortung dafür trägt die Geschäftsführung.
Gegen die einseitige Streichung der Indexierung hätte sich Jugendland Geschäftsführer Reinhard Halder im Jahr 2023 wehren müssen. Allerdings wurde ihm bereits damals mitgeteilt, dass der Leistungsvertrag gekündigt werden könne. Halder wollte das nicht riskieren und hoffte, mit bester Auslastung und teilweiser Überbelegung, die in Notlagen oft notwendig war, und damit höheren Einnahmen über die Runden zu kommen.
Die internen Einsparungen wirkten sich vor allem im Verwaltungsbereich aus, was wieder zu Missstimmung beim Land führte, wenn Unterlagen mangels Personal nicht ausreichend oder nicht zeitgerecht übermittelt werden konnten.
Veränderungen im Jugendland und Auflage der Landesrätin
Jugendland gründete im Frühjahr 2024 eine neue gemeinnützige GmbH, die Jugendland Bildung GmbH. Diese übernahm schrittweise die Geschäftsbereiche Tagesbetreuung, KünstlerKinder und Bildungszentrum Funtasy. In der Jugendland Betreuung GmbH verblieben nur mehr die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Umstrukturierung war ein Wunsch des Landes..
Zuletzt verlangte die zuständige Landesrätin einen Wechsel in der Geschäftsführung ab 1.7.2024. Dies wurde von Jugendland zunächst erfüllt, allerdings wollte die für das Finanzwesen künftig verantwortliche Fachkraft die Geschäftsführung aus Haftungsgründen verständlicherweise nicht behalten. Als Leiterin des Finanz- und Rechnungswesens wäre sie aber weiterhin zur Verfügung gestanden.
Der Druck zur Insolvenz
Jugendland hatte bereits vor der Auflage der zuständigen Landesrätin einen personellen und zeitlichen Plan für die Übergabe der Geschäftsführung in jüngere Hände. Auch die Einstellung einer Fachkraft für Finanzwesen war bereits geplant und Ausschreibungen vorbereitet. Dass die bereits mit 1.7.2024 vorgeschriebene Einstellung einer kaufmännischen Alleingeschäftsführung nicht verwirklicht werden konnte, war ausschlaggebender Grund, dass die Verträge mit Jugendland gekündigt wurden und Jugendland die seit fast 40 Jahren erfolgreich geführten Wohngruppen nicht mehr weiterführen sollte.
Mit dem Wegfall der Geschäftsgrundlage war klar, dass mittel- und längerfristige Finanzpläne zur Sanierung der Finanzprobleme von heute auf morgen hinfällig waren, keine Aussicht mehr bestand, Verbindlichkeiten abzubauen und der Gang zum Konkursgericht unvermeidbar wurde.
In dieser Zwangslage hat Geschäftsführer Reinhard Halder am Mittwoch, 4.9.2024, die Einleitung eines Insolvenzverfahrens beim Landesgericht Innsbruck beantragt. Das Bemühen, vorher noch ein Gespräch mit der Landesregierung führen und einen Ausweg besprechen zu können, ist gescheitert.
Seither geht alles den rechtlich vorgeschriebenen Weg. Jugendland arbeitet transparent und kooperativ mit. Am 13.9.2024 wurde das Insolvenzverfahren beim LG Innsbruck eröffnet.
Die Dimension von Kündigung und Insolvenz
Die Auswirkungen der aktuellen Situation sind größer als man sich gedacht hatte:
- Fast 70 Kinder und Jugendliche verlieren ‚ihr Zuhause Jugendland‘, für viele unvorstellbar und belastend, auch wenn ihre Gruppen und ihre Betreuung unter einem neuen Träger gesichert sein sollten.
- Wurden Kinder und Jugendliche gefragt, die nach dem Tiroler Kinder- und Jugendhilfegesetz in alle sie betreffenden Angelegenheiten einbezogen werden müssen?
- Wurden Eltern gefragt, die ein Äußerungsrecht haben?
- Alle MitarbeiterInnen verlieren ‚ihr Unternehmen‘, das sie sich ausgesucht und für das sie großteils über Jahre, manche über Jahrzehnte gearbeitet haben, sich identifizierend mit der Mission, den Ideen und Grundsätzen im Jugendland. Sie müssen persönliche Nachteile und Einschränkungen im Zuge des Insolvenzverfahrens in Kauf nehmen und trotzdem bis zur Übernahme durch einen neuen Träger für die Betreuung der großteils traumatisierten Kinder zur Verfügung stehen
- Unklar ist, welche Angebote die pädagogischen MitarbeiterInnen von einem neuen Träger erhalten und ob sie überhaupt alle noch gebraucht werden
- Können Zivildiener und FSJ-Freiwillige ihre Einsatzstellen behalten?
- Jugendland qualifiziert seine MitarbeiterInnen und Wohngruppen seit Jahren intensiv im Fachgebiet der Traumapädagogik. Wird das fortgesetzt?
- Die Tiroler Kinder- und Jugendhilfe verliert einen verlässlichen, flexiblen und in vielen Notsituationen hilfreich gewesenen Partner
- Der Imageschaden auch für die Förderbereiche KünstlerKinder, Tagesbetreuung und Bildungszentrum ist massiv und gefährdet auch deren Existenz
- MitarbeiterInnen im Verwaltungs– und Wirtschaftsbereich bangen um ihre Arbeitsplätze
- Gibt es Träger, die gern und ausreichend vorbereitet die große Herausforderung der Übernahme der Wohngruppen zeitnah bewältigen können?
- Was ist ein unermüdlicher Einsatz über fast vier Jahrzehnte für die Kinder- und Jugendhilfe in Tirol wert, wenn die dargelegten Gründe ausreichen, um auf ein Unternehmen wie Jugendland auf diese Weise zu verzichten?
- Es wird weniger möglich sein, jungen Menschen Chancen zu geben.